Die Brandschatzung der Bischofskirchen in Brandenburg und Havelberg im Jahre 983, die bis heute nicht genau lokalisierte Tempelburg von Rethra, die 1168 gefällte Svantevitfigur auf dem Kreidefelsen von Arkona – das sind weit über die Wissenschaft hinaus bekannte Kapitel einer großen Erzählung, in der sich historisch reale und fiktive Elemente mischen. Sie fasziniert immer aufs Neue und bietet jedem Zeitgeist und jeder Überzeugung eine eigene Lesart an: von der Überwindung einer hemmenden, archaischen Glaubenswelt über den Widerstand gegen eine fremde, repressive Religion bis hin zum Kulturtransfer zwischen zwei Lebenswelten.
Religion wird dabei vielfach als elementares Handlungsmotiv, die Christianisierung als zentraler Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung der frühgeschichtlichen westslawischen Stammesgebiete verstanden. Die dauerhafte Christianisierung der Eliten markiert hier einen entscheidenden Wendepunkt, und wo sie – wie bei den Lutizen im Hinterland der südlichen Ostseeküste – lange nicht erfolgte, scheinen ganze Regionen gewissermaßen aus der Zeit zu fallen. Unzweifelhaft dürfte sein, dass religiöse und profane Aspekte der frühgeschichtlich-mittelalterlichen nordwestslawischen Gesellschaft vielfältig miteinander verwoben waren und sich in enger gegenseitiger Beziehung entwickelten.
Die archäologische Forschung bemüht sich seit langem, materiell zu fassen, was zeitgenössische Chroniken und weitere Schriftquellen in wenigen Nachrichten über die religiösen Verhältnisse bei den nördlichen Westslawen schildern. Gleichwohl ist die Sammlung einschlägiger Funde und Befunde in der Zahl beschränkt und oft schwer zu deuten. Manche Objekte sind zudem hinsichtlich ihrer Datierung oder sogar ihrer Authentizität umstritten. Angesichts dieser Situation haben sich die Herausgeber entschieden, bei der Sektion zur slawischen Frühgeschichte der 22. Jahrestagung des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung in Chemnitz (zugleich 83. Verbandstagung des West- und Süddeutschen Verbandes für Altertumsforschung) vom 29.-31. März 2016 das Thema ‚Vorchristliche Religion der Slawen im frühen und hohen Mittelalter‘ in den Mittelpunkt zu stellen. Religionswissenschaftliche, historische und archäologische Studien, die Einbeziehung neu abgesteckter Rahmen der Interpretation, etwa zur Traditionsbildung von Nekropolen, die Analyse der Relikte von Kultbauten oder die feinteilige Interpretation von Bildmotiven beleuchteten das große Thema in vielen Facetten. 15 Beiträge widmen sich im vorliegenden Band diesem Problemkreis. 11 weitere Aufsätze behandeln unterschiedliche Themen aus der aktuellen Forschung zur Frühgeschichte und zum Mittelalter des westslawischen Siedlungsterritoriums und angrenzender Regionen. Sie sind teilweise im Rahmen der Sektion gehalten worden, teilweise anschließend in diesen Sammelband aufgenommen worden. Wie die vorangehenden Tagungsbände versteht sich diese Publikation als aktueller Überblick zu den vielfältigen Forschungsaktivitäten im Themenfeld der slawischen Archäologie im heutigen ostdeutschen Gebiet sowie des weiteren Ostmitteleuropas.
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort
BEITRÄGE ZUM SCHWERPUNKTTHEMA
Anne Klammt, Peter Meyer und Mirko Roth
• Herausforderung: Religion als Deutungsmuster archäologischer Forschung – Fallbeispiel elbslawische Gemeinschaften
Andrej Pleterski
• Die strukturelle Verwirklichung des slawischen Altglaubens
Katerina Tornkovä
• Imprints of the Commemoration of the Dead in Early Medieval Bohemia
Drahomira Frolfkovä-Kaliszovä
• Churches and Crosses as Evidence for the Christianisation Process of Great Moravia
J an Frolik
• Die Prager Burg und ihre frühmittelalterlichen Gräberfelder – Versuch einer sozialen Interpretation
Sona Hendrychovä
• Die großmährischen Gräberfelder in Rajhrad und Rajhradice
Felix Biermann
• Kult, Sklaverei, Mord und Totschlag – menschliche Knochen aus slawischen Siedlungsbefunden
Normen Posselt
• Slawische Nachbestattungen in vorgeschichtlichen Grabanlagen in Mecklenburg-Vorpommern
Uwe Michas und Hans-Peter Vietze
• Archäologische Hinweise auf vorchristliche Religion vom Burgwall Spandau
Fred Ruchhöft
• Arkona – die Suche nach dem Heiligtum
Pawel Szczepanik
• Early Medieval Bronze Sheaths with Zoo- and Anthropomorphic Ornamental Fittings from Poland – Mythical Pictures and their Content
Alexander Sakuth
• Weit gereist – ein ostkirchliches Enkolpion aus Blengow in Mecklenburg
Normen Posselt und Pawel Szczepanik
• Zoomorphe Applikationen und Darstellungen auf slawischen Schläfenringen im nördlichen westslawischen Raum
Ingo Petri
• Eine figürlich verzierte Tüllenhandbüchse als Triglav-Darstellung aus dem späten Mittelalter?
Katrin Frey
• ‚Der Wendengötze von Weggun‘ – zur neuzeitlichen Fälschung frühgeschichtlicher Kultobjekte im nordostdeutschen Gebiet
ALLGEMEINE BEITRÄGE
Felix Biermann mit einem Beitrag von Markus Leukhardt
• Der Burgwall von Drense (Uckermark) und seine Zentralfunktionen in der Slawenzeit
Bettina Jungklaus
• Neues von einem bekannten Gräberfeld – Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen der slawischen Bestattungen aus der Brauerstraße in Potsdam
Thomas Kersting und Frank Slawinski
• Slawische und skandinavische Funde von Niederjesar, Lkr. Märkisch-Oderland
Dietmar Rathert und Torsten Geue
• Slawische Siedlungsstrukturen vor Gründung der Brandenburg – Ausgrabungen im Domstiftsareal zu Brandenburg an der Havel
Marlies Konze
• Die slawische Burg von Schwerin – eine Zwischenbilanz der Grabung 2014/2015 im Schlossinnenhof
Andreas Kieseler
• Die Eisenschüsseln vom schlesischen Typ im westslawischen Raum – ein Überblick
Walter Wenzel
• Die Einwanderung der Slawen in den Elbe-Saale-Raum im Licht der Namen
Tornás Klir
• Social Context of the Slavic-German Language Contact: North-eastern Bavaria and the Eger Region in the Early Middle Ages
Achim Leube
• Zu den Anfängen der Stadtkernarchäologie in Ostdeutschland – die Grabungen in der Stadt Magdeburg 1945-1952
Volker Schimpff
• Pfalzenforschung im und am Mittelharz: Anmerkungen zu einer Neuerscheinung über die königlichen Aufenthaltsorte von der Werla bis Quedlinburg
Felix Biermann und Dominik Nowakowski
• Prospektionen bei Wahlstatt (Legnickie Pole) – archäologische Forschungen zur ‚Tatarenschlacht‘ bei Liegnitz von 1241