Bis heute hält sich das Bild von den wilden Reiterhorden aus dem Osten, deren Kampfkraft auch gerne von etablierten Mächten in Anspruch genommen wurde. Doch die Steppennomaden waren nicht nur zähe Krieger. Als Händler und Hirten hatten sie Moden, Bräuche und Technologien im Gepäck. In Europa machten Klima, Bodengüte und Bewaldung eine weiträumige Wanderweidewirtschaft unnötig. Viele Nomaden wurden sesshaft. Die Viehzucht blieb ihnen wichtig, doch zuletzt unterschieden sie sich kaum noch von ihren Nachbarn. Allein die wehrhafte Oberschicht pflegte die Traditionen der Steppe noch länger.
Dieser Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung »Reiternomaden in Europa — Hunnen, Awaren, Ungarn« liefert in Essays einen Querschnitt zur Geschichte dieser Völkerschaften in Europa und darüber hinaus einen Überblick zu den wichtigsten archäologischen Funden — ergänzt durch Funde aus Mitteldeutschland seit der Spätbronzezeit. Primär vertreten sind herausragende Funde aus Sammlungen in Ungarn, Österreich und der Slowakei.
Zumindest seit der Bronzezeit kamen immer wieder Nomaden aus der weiten eurasischen Grassteppe bis nach Mitteleuropa. Ganz nah an der Natur waren sie imstande, auch in kargen Landschaften sich und ihre Herden zu ernähren. Sie stellten fast alles selbst her, was man zum Leben benötigte: Gegenstände aus Holz, Bein, Textilien, Filze, Leder, aber auch Eisengegenstände, von geschickten Schmieden aus lokalen Erzen produziert. Die Pferdezüchter waren natürlich brilliante Reiter und Jäger, und von da ist es zum Krieger nicht weit. Schon bei den Skythen bildete sich eine spezialisierte Kämpferschicht heraus, quasi Berufssoldaten, die hervorragend ausgerüstet als Gegner gefürchtet, als Bündnispartner aber begehrt waren.
Die Migranten aus der Steppe brachten viele Innovationen nach Europa, z. B. den eisernen Steigbügel im 6. Jh. aus China, aber sie spielten auch eine wichtige Rolle im Fernhandel mit Luxusgütern wie Edelsteinen oder Gewürzen.
Niedergelassen in Mitteleuropa passten sie sich immer mehr den benachbarten Gesellschaften an. So wurde aus dem bulgarischen Nomadenvolk im 9. Jh. ein zentralistisches, christliches Königreich, die Ungarn zogen im 10. Jh. nach. Bulgarien und Ungarn sind heute Mitglieder der Europäischen Union.
Die Steppenvölker aus dem Osten sind aus der europäischen Geschichte nicht wegzudenken und es war Zeit, sie in einer großen Ausstellung genauer zu beleuchten. Sie fokussiert auf die drei frühmittelalterlichen Reiche der Hunnen, Awaren und Ungarn sowie ihre kulturellen Beziehungen, erstmals in vergleichender Perspektive. Die zahlreichen Exponate, meist aus Metall, werden ergänzt durch Objekte von neuzeitlichen Nomaden, um eine Vorstellung von der Pracht und Farbigkeit der organischen Welt der Steppenleute zu vermitteln.
Inhaltsverzeichnis:
VORWORT
Harald Meller, Falko Daim und Thomas Puttkammer
DIE KINDER DER STEPPE
Von wegen eintönig – Geografie, Klima und Vegetation der Eurasischen Steppe
Adam Izdebski
Lebenskünstler – Die Entwicklung des Nomadismus in der Eurasischen Steppe
Nikolay N. Kradin
Die Zügel der Macht – Die Herausbildung berittener nomadischer Eliten in den Eurasischen Steppen
Nicola Di Cosmo
Dschingis Khan und die Komantschen – Nomadische Imperien und sesshafte Großreiche in globaler Perspektive
Johannes Preiser-Kapeller
Kontakte und Konfrontationen – Die zentralasiatischen Nomaden, China und die Seidenstraße
Gergely Csiky
Die Steppe in Bewegung – Hunnen, Alanen, Türken, Chasaren
Oleksii V. Komar
MITTELDEUTSCHLAND UND DIE REITERNOMADEN
Die ersten historisch bezeugten Reiterkrieger in Mitteleuropa – Die Kimmerier und Skythen
Ralf Schwarz
Plünderer, Sklavenhändler, Reichsgründer – Gedanken zum »Schatz von Witaszkowo/Vettersfelde«
Louis D. Nebelsick
Skythen im nördlichen Schwarzmeergebiet – Ein frühskythischer Grabkomplex vom Mamai-Gora
Svetlana I. Andrukh und Genadi N. Toschev
Import oder Nachahmung? – Der Dolchhort von Klein Neundorf bei Görlitz
Jasper von Richthofen
Im Randgebiet steppennomadischer Einflüsse – Hunnen, Awaren und Ungarn in Mitteldeutschland?
Arnold Muhl
ASPEKTE DER HERRSCHAFT
Großes Theater – Inszenierung von Macht an den Höfen der Steppenfürsten
Dominik Heher
Unbequeme Nachbarn? – Der wirtschaftliche Austausch zwischen Reiternomaden und Sesshaften
Dominik Heher
Die Sprache der Münzen – Römische und Byzantinische Prägungen im Karpatenbecken
Péter Prohászka
DIE HUNNEN
Die Hunnen und Rom – Kurze Geschichte einer komplizierten Beziehung
Timo Stickler
Entfernte Verwandte? – Von den Xiōngnú zu den Hunnen
Gergely Csiky
»Sie riefen uns herbei und nahmen uns bei sich auf« – Fragen der Siedlungsforschung im Reich Attilas
Zsófia Masek
Des Hunnenkönigs viele Völker – Gesellschaftliche Strukturen im Hunnenreich
Zsófia Rácz
Die Herrin von Untersiebenbrunn – Repräsentationskultur der hunnenzeitlichen Oberschicht
Elisabeth Nowotny
Kopfsache – Künstliche Schädeldeformation als globales Phänomen
Bendeguz Tobias und Karin Wiltschke-Schrotta
Der Herr und sein Pferd – Ein hunnenzeitliches Grab mit abgezogenem Pferdefell
Valéria Kulcsár
»Verbinde und herrsche« – Die hunnische Konföderation als (kurzfristiges) Erfolgsmodell
Michael Schmauder
Was kam nach Attila? – Der Zusammenbruch der hunnischen Konföderation
Roland Steinacher
Barbar, Dämon oder Staatsmann? – Die vielen Facetten König Attilas
Dominik Heher
DIE AWAREN
Woher kamen die Awaren? – Eine Spurensuche zwischen Schriftquellen und Genforschung
Walter Pohl
Leben und leben lassen – Die Herrschaft der Awaren im Karpatenbecken
Tivadar Vida
Vom Umgang mit Toten – Frühawarische Bestattungssitten im Vergleich
Gábor Lőrinczy und Péter Somogyi
Bestattung und Identität – Die Szegvár-Gruppe und ihre kulturellen Verbindungen
Bence Gulyás
Auf Eisen gebettet – Der Krieger von Derecske – Ein Mitglied der schweren Kavallerie des awarischen Heeres
Tamara Hága
Zwei Kilo Gold zum Abschied – Das frühawarische Prunkgrab von Kunbábony
Levente Samu
Im Zentrum der Macht – Auf der Suche nach dem Sitz des Awaren-Khagans
Csilla Balogh
Bilder für den Herrscher – Der Goldschatz von Sânnicolau Mare/Nagyszentmiklós
Falko Daim
Pflanzenwerk und Fabelwesen – Nomadische Kunst der späteren Völkerwanderungszeit im Karpatenbecken
Gergely Szenthe
Christen im Awarenreich – Das spätrömische Kastell von Keszthely-Fenékpuszta und die Keszthely-Kultur
Róbert Müller
Wer ist der Mann mit Schlange und zwei Schwertern? – Die Schnalle von Kölked-Feketekapu
Falko Daim
Feindbild und Faszinosum – Der awarische Blick auf Byzanz
Csanád Bálint
Global Player – Awarische Netzwerke von den Alpen bis zum Schwarzen Meer
Adrienn Blay und Levente Samu
Verborgenem Wissen auf der Spur – Hunnen- und awarenzeitliche Feinschmiedeprodukte
Orsolya Heinrich-Tamáska
Die Sprache der Ohrringe – Das Frauengrab 144 von Mödling – An der Goldenen Stiege
Peter Stadler
Game Over – Die Zerstörung des Awarenreiches und die karolingische Neuordnung
Walter Pohl
Neue Zeiten, neue Mächte – Priwina und die Entstehung der Stadt Mosaburg (Zalavár)
Béla M. Szőke
DIE UNGARN
Projekt Landnahme – Die Geschichte der Ungarn bis zur Gründung des christlichen Königreiches
László Révész
Jurte oder Haus? – Zur Siedlungsarchäologie des 10. Jahrhunderts im Karpatenbecken
Miklós Takács
Die letzte Reise – Ungarische Bestattungsriten im 10. Jahrhundert
Rita Soós
Heldengrab – Der frühungarische Krieger aus Gnadendorf im Weinviertel
Falko Daim
Auf der Überholspur – Der Aufstieg der Árpáden in Ungarn
János B. Szabó
Revolutionär und Heiliger – Das Vermächtnis König Stephans I. von Ungarn
Attila Zsoldos
ANHANG
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